Rede zum Volkstrauertag am 19. November 2017 in Sosa

Rede zum Volkstrauertag am 19. November 2017 in Sosa

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Die Menschenrechte beginnen, wo die Vorurteile enden.“ Dieses Zitat von Marie-Joseph Motier, der von 1757 bis 1834 lebte, liefert einen bemerkenswerten Ansatz für das diesjährige Thema des Volkstrauertages zur Erinnerung an die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaften. Auch wenn das Zitat mehr als 200 Jahre alt ist, ist es auch heute noch sehr aktuell und mahnt damit auch in der Gegenwart zum Nachdenken, was Frieden eigentlich bedeutet. Menschenrechte und Krieg, das sind zunächst erst einmal zwei völlig einander widersprechende Dinge, die erst beim zweiten Hinsehen auch Zusammenhänge erkennen lassen.

Wer heute durch Deutschland oder Europa fährt, dem fällt es schwer, in den idyllischen Landschaften, den schönen Dörfern und den lebendigen Stätten die Schauplätze von Kriegen und den totalitären Diktaturen und der damit verbundenen Gewalt des 20. Jahrhunderts zu erkennen. Doch tatsächlich gibt es kaum ein Land, das im vergangenen Jahrhundert nicht stärker Schauplatz von Krieg, Gewalt, Terror und Mord war, wie Deutschland. Seit den 1920er-Jahren hat das Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkrieges in ganz Europa in Denkmalen und Soldatenfriedhöfen seinen materiellen Ausdruck gefunden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 sollte es Jahrzehnte dauern, bis auch der von Deutschland betriebene Mord an Juden, Sinti und Roma und anderer Völker mit der Bezeichnung „Lebensunwerte Menschen“ zu einem wesentlichen Bestandteil der deutschen oder gar europäischen Erinnerungskultur wurde.

Mit dem Ende der kommunistischen Ära rückten nach 1989 zugleich auch deren Opfer in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa ins öffentliche Bewusstsein. Das wurde zu einer Herausforderung, auch für diese Opfer einen angemessenen Platz in der deutschen und europäischen Erinnerungskultur zu finden.

Krieg und Menschenrechte, darauf gibt es eigentlich nur eine klare Antwort, die auch unsere Verfassung in Deutschland eindeutig zum Ausdruck bringt: „ Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Als Menschenrechte werden subjektive Rechte bezeichnet, die jedem Menschen auf unserer Erde gleichermaßen zustehen. Natürlich sind Konzepte zu Menschenrechten immer auch gesellschaftlich und von der jeweiligen historischen Epoche bestimmte Rechte. Aber in allem beinhalten sie drei wesentliche Komponenten. Das heißt, sie sind zum 1. universell, was nichts anderes bedeutet, als allgemeingültig. Zum 2. sind sie von der sogenannten Egalität, also der Gleichheit bestimmt. Jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich, es darf also niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder auch wegen seiner Behinderung benachteiligt und bevorzugt werden. Und als 3. sind Menschenrechte unteilbar. Sie müssen also in ihrer Gesamtheit verwirklicht sein.

Für uns heute gilt die allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder auch Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Schaliott in Paris genehmigt und verkündet wurden. Dort wurden die Grundrechte in 30 Artikel niedergeschrieben. Die meisten von uns kennen sie zwar intuitiv, sicher aber nicht in ihrer Vollständigkeit. Manches davon, wie z. B. das Verbot der Sklaverei oder das Verbot der Folter, mutet dabei etwas mittelalterlich an. Trotzdem gibt es dies auch heute noch auf unserer Erde. Andere sind bekannter, wie z. B. die Religionsfreiheit, das Recht auf Ehe, die Meinungs- und Informationsfreiheit u. v. a. Was viele vielleicht nicht wissen, auch das Asylrecht ist ein Menschrecht nach der Charta der Vereinten Nationen. Wenn man sich heute so umhört, wie der eine oder andere mit diesem Begriff umgeht, so möchte man meinen, dass dieser von Menschenrechten noch nichts gehört hat.

Was aber haben nun Menschenrechte mit Trauer um die Millionen Toten von Krieg und Gewaltherrschaft zu tun? Ich möchte versuchen, es aus meiner Sicht etwas zu erörtern. Kriege, die dazu dienten, andere Länder zu erobern, haben natürlich die Rechte der dort lebenden Menschen verletzt. Andererseits gibt es aber auch Kriege, die geführt wurden, um die Heimat und damit die eigenen Rechte vor Angreifern zu verteidigen. Und den 3. Fall gibt es, wenn Kriege geführt werden und in andere Länder einmarschiert wird, um dort gegen Menschenrechtsverletzungen zu kämpfen. Ich glaube, bei den ersten beiden Fällen sind wir uns einig, dass man je nach Einordnung eine klare Position finden kann. Menschenrechte, Heimat und staatliche Ordnung müssen verteidigt werden und wenn es der äußere Feind herausfordert, auch mit Waffengewalt. Schwieriger wird es schon dann, wenn man von außen in Länder eindringt, um Menschenrechtsverletzungen zu ahnden. Eines der wohl bekanntesten Beispiele in diesem Jahrhundert sind die Versuche, in Afghanistan so etwas wie Menschenrechte herzustellen. Viele Regierungen sind gescheitert und auch heute noch ist dort ein großes Problem vorhanden, von dem die Staatengemeinschaft nicht weiß, wie es gelöst werden kann. Auch bei Bürgerkriegen werden Menschenrechte von den Kriegsparteien oft in eklatanter Weise verletzt.

Heute trauern wir über die Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft. Bei den zivilen Opfern ist dies unumstritten, bei den Soldaten stehen oftmals auch Fragezeichen. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema unter dem Aspekt der Menschenrechte ist sehr schwierig. Beim Andenken steht zumeist das körperliche Leid im Vordergrund. Dagegen wird kaum über die psychischen Qualen gesprochen, die gerade Soldaten durchleben. In den meisten Fällen, gerade im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurden die jungen Männer und Frauen einfach vom Staat verpflichtet, um in dessen Interessen einen Krieg zu führen. Sie hatten nicht das Recht, dies zu verweigern, es sei denn, sie hätten es mit ihrem eigenen Leben bezahlt. Insofern hat man also auch diesen Menschen das Recht auf eine freie Entscheidung genommen. Also sind auch sie in gewisser Weise als Opfer anzusehen. Und deshalb trauern wir am Volkstrauertag auch über die Toten aus den eigenen Reihen, die für verbrecherische Angriffskriege missbraucht wurden.

Als der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge 1919, kaum ein Jahr nach dem ersten großen Krieg mit seinen Millionen Toten vorschlug, einen Volkstrauertag einzuführen, ging es vor allem darum, die im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten, deren Grabstätten sich oft weit entfernt von ihren Heimatorten befanden, zu betrauern und ihrer zu gedenken. Damals verband man mit der Einführung dieses Tages die Erwartung, dass eine einheitliche Erinnerung an das Leid des Krieges über die Schranken der Parteien, der Religion und der sozialen Stellung hinweg in gemeinsamer Trauer zusammenführen kann. Seit den 1950er-Jahren ist dieser Tag dem Gedenken an alle Kriegstoten und an die Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen gewidmet. Mit dem Gedenken an die Kriegstoten aller Nationen leistete der Volksbund einen unschätzbaren Beitrag zur Völkerverständigung über den „Eisernen Vorhang“ hinweg.

Bereits 1985 hatte Richard von Weizäcker als Bundespräsident die Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg nachhaltig beeinflusst, als er den 8. Mai 1945 zuvorderst als einen Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus beschrieb. Und damit löste er auch die schwierige Aufgabe, das Thema „Menschenrechte und Krieg“ klar zu definieren. Der Nationalsozialismus enthielt den Menschen ihre Rechte ebenso, wie andere totalitäre Regime. Und deshalb musste man auch das eigene Volk von ihm befreien.

Heute leben wir in einer Zeit und hier in Deutschland in einer Gesellschaft, wo die meisten Menschen Krieg nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen. Wenn auch nicht immer gleichmäßig, so ging es aber stetig bergauf mit Wohlstand und Frieden in Europa. Manchmal frage ich mich angesichts der wachsenden Unzufriedenheit und der populistischen Pauschaldiskreditierung politischen Handelns, ob die Menschen des Glücks, in einem der stabilsten und sichersten Länder auf dieser Welt zu leben, überhaupt noch bewusst ist. Der Wert einer Solidargemeinschaft wird zugunsten von Eigeninteressen demontiert. Und so riskieren wir in leichtfertiger Weise, dass wir langsam aber sicher taumeln, hinein in Instabilität, Werteverlust und Hasskultur. So war es auch 1914. Und plötzlich gab es Krieg.

Wenn die Menschenrechte im Kopf der Menschen keinen Platz mehr haben. Wenn Vorurteile, Neid und Unzufriedenheit wieder auf dem Vormarsch sind, geht die Saat des Krieges wieder auf. Deshalb begehen wir heute diesen Volkstrauertag im Bewusstsein, das die Toten uns mahnen wollen, achtsam zu sein. So möchte ich das Eingangszitat ein wenig abwandeln und allen mit auf den Weg geben: „Krieg beginnt, wo Menschenrechte enden.“

Uwe Staab
Bürgermeister