14. November 2021 - Rede zum Volkstrauertag am Ehrenmal gefallener Soldaten in Sosa

Rede zum Volkstrauertag am 14. November 2021 in Sosa

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Soldatengräber sind die großen Prediger des Friedens.“ Dieses Zitat von Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer, der von 1875 bis 1965 lebte, liefert einen bemerkenswerten Ansatz für das diesjährige Thema des Volkstrauertages zur Erinnerung an die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaften. Der Volkstrauertag ist ein Blick zurück, ein Blick in die Vergangenheit – ein Blick auf Soldatengräber. Er ist den Opfern der Kriege und der Gewaltherrschaften gewidmet. Jedoch soll er auch in der Gegenwart zum Frieden mahnen. Und deshalb möchte ich noch ein zweites Zitat gleich anschließen. Die Künstlerin Käthe Kollwitz hat einmal gesagt: „Kriegsopfer sind immer auch die zurückgebliebenen Mütter, Frauen und Kinder.“ Nicht ohne Grund werden die zentralen Gedenkfeiern zum Volkstrauertag in der neuen Wache in Berlin durchgeführt, wo die Skulptur „Mutter mit totem Sohn“ von ihr steht. Sie selbst hat ja im ersten Weltkrieg einen 17 Jahre alten Sohn verloren.

Wir alle haben uns heute zum Volkstrauertag hier am Denkmal für die gefallenen Soldaten in Sosa eingefunden. Ich freue mich sehr, dass Sie alle gekommen und heute dabei sind. Auch wenn die Zitate etwas älter sind, so sind sie auch heute noch sehr aktuell und mahnen damit auch in der Gegenwart zum Nachdenken, was Frieden eigentlich bedeutet. 

Der Volkstrauertag wurde auf Vorschlag des 1919 gegründeten Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge als Gedenktag für die Kriegstoten des Ersten Weltkrieges eingeführt. Dieser Tag sollte ein Zeichen der Solidarität mit den Hinterbliebenen der Gefallenen und Kriegstoten aussenden. 1922 fand die erste offizielle Feierstunde im Deutschen Reichstag in Berlin statt. Dabei rief Reichstagspräsident Paul Löbe eindringlich zur „Abkehr vom Hass“ auf und warb für Versöhnung und Verständigung. Ein Komitee, dem von den großen Glaubensgemeinschaften bis zum jüdischen Frauenbund viele verschiedene Verbände Über den Volkstrauertag angehörten, erreichte unter Federführung des Volksbundes, dass der Volkstrauertag in den meisten Ländern des Deutschen Reiches gemeinsam begangen wurde: am Sonntag Reminiscere, dem fünften Sonntag vor Ostern. In der Weimarer Zeit jedoch verlor die Trauer um die Gefallenen ihre gesellschaftlich verbindende Wirkung. Dies lag an der umstrittenen Deutung des Ersten Weltkrieges. Die politischen Kräfte, die am Volkstrauertag vorrangig den Kampf der deutschen Soldaten heroisierten, wurden immer stärker. Schon bald darauf übernahm Reichspropagandaminister Goebbels die Deutungshoheit, was ja zum Glück auch beendet wurde.

Wie in vielen anderen am Krieg beteiligten Ländern prägte auch bei uns, in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg der unmittelbare Schmerz über den Verlust der eigenen Angehörigen das Gedenken. Die politischen Dimensionen und auch die Frage von Schuld und Verantwortung wurden gelegentlich angesprochen, jedoch sind diese Stimmen viele lange Jahre leise geblieben. Es dauerte lange, bis die deutsche Gesellschaft zur Erkenntnis fand, dass das gemeinsame Erinnern und die toten Soldaten, nicht allein auf die Toten der Weltkriege und damaligen Diktaturen begrenzt sein können. Wie wir alle wissen, hat die deutsche und damit auch die europäische Teilung nach 1945 sehr viele weitere Opfer gefordert. Gott sei Dank ist Europa heute kein „Kontinent des Krieges“ mehr.

Der Volkstrauertag ist ein Tag des stillen Gedenkens an alle Opfer von Krieg und Gewalt und zugleich ein Tag der Besinnung, wie wir heute auf Krieg, Gewalt und Terror reagieren, was wir heute für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit bei uns und in der Welt tun können. Nicht nur die Tradition, sondern die Einsicht beantwortet immer wieder geäußerte Zweifel, ob wir diesen Gedenktag - mehr als 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges - noch brauchen.

Ja, wir brauchen ihn, aus Respekt vor den Millionen Opfern von Krieg und Gewalt. Wir brauchen diese Momente des Innehaltens, genauso wie wir Orte des Gedenkens brauchen, damit das, was geschehen ist, nicht verdrängt wird. Das nationale Gedächtnis, das eine identitätstiftende Wurzel unseres Verständnisses von Staat und Gesellschaft ist, braucht Stützen der Erinnerung. Gedenktage wie Denkmale bringen zum Ausdruck, welche Ereignisse und Erfahrungen unserer Geschichte wir im Bewusstsein auch künftiger Generationen bewahren und lebendig halten wollen.

Wer heute durch Deutschland oder Europa fährt, dem fällt es schwer, in den idyllischen Landschaften, den schönen Dörfern und den lebendigen Stätten die Schauplätze von Kriegen und den totalitären Diktaturen und der damit verbundenen Gewalt des 20. Jahrhunderts zu erkennen. Doch tatsächlich gibt es kaum ein Land, das im vergangenen Jahrhundert nicht stärker Schauplatz von Krieg, Gewalt, Terror und Mord war, wie Deutschland. 

Heute finden Kriege in anderen Regionen der Welt statt. Auch wenn wir nicht vergessen wollen, dass 1941 vor 80 Jahren mit dem Überfall auf die damalige Sowjetunion der von Hitler begonnene Krieg zum Weltkrieg wurde, wollen wir in diesem Jahr besonders daran denken, dass der Afghanistankrieg endete, an dem auch deutsche Soldaten beteiligt waren. Wiederum gab es Opfer unter den Soldaten und in der Zivilbevölkerung zu beklagen. Insgesamt verloren dort 59 von 160.000 dort stationierten deutschen Soldaten ihr Leben. Der Einsatz hat ca. 18 Milliarden EURO für Deutschland gekostet. Viel mehr Opfer haben die Amerikaner und die anderen Europäer zu beklagen. 

Der Einsatz wurde geführt, weil die Welt von Terror überzogen wurde, wo zumeist die Zivilbevölkerung Ziel von Anschlägen war. Wir waren dort um Frieden zu stiften für das Land und die Menschen aber auch für den Rest der Welt. Deshalb war es eine Friedensmission, wo Soldaten gesandt wurden, die eigentlich nicht Schießen wollten und sollten. 

Aber es gibt immer noch Kräfte in der Welt, die Menschenrechte nicht interessieren. Krieg und Menschenrechte, darauf gibt es eigentlich nur eine klare Antwort, die auch unsere Verfassung in Deutschland eindeutig zum Ausdruck bringt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Für uns heute gilt die allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder auch Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Schaliott in Paris genehmigt und verkündet wurden. Dort wurden die Grundrechte in 30 Artikel niedergeschrieben. Die meisten von uns kennen sie zwar intuitiv, sicher aber nicht in ihrer Vollständigkeit. Manches davon, wie z. B. das Verbot der Sklaverei oder das Verbot der Folter, mutet dabei etwas mittelalterlich an. Trotzdem gibt es dies auch heute noch auf unserer Erde. Andere sind bekannter, wie z. B. die Religionsfreiheit, das Recht auf Ehe, die Meinungs- und Informationsfreiheit u. v. a. Was viele vielleicht nicht wissen, auch das Asylrecht ist ein Menschrecht nach der Charta der Vereinten Nationen. Wenn man sich heute so umhört, wie der eine oder andere mit diesem Begriff umgeht, so möchte man meinen, dass dieser von Menschenrechten noch nichts gehört hat. 

Heute leben wir in einer Zeit und hier in Deutschland in einer Gesellschaft, wo die meisten Menschen Krieg nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen. Wenn auch nicht immer gleichmäßig, so ging es aber stetig bergauf mit Wohlstand und Frieden in Europa. Manchmal frage ich mich angesichts der wachsenden Unzufriedenheit und der populistischen Pauschaldiskreditierung politischen Handelns, ob die Menschen des Glücks, in einem der stabilsten und sichersten Länder auf dieser Welt zu leben, überhaupt noch bewusst ist. Der Wert einer Solidargemeinschaft wird zugunsten von Eigeninteressen demontiert. Und so riskieren wir in leichtfertiger Weise, dass wir langsam aber sicher taumeln, hinein in Instabilität, Werteverlust und Hasskultur. So war es auch 1914 und 1933. Und plötzlich gab es Krieg.

Wenn die Menschenrechte und Nächstenliebe im Kopf der Menschen keinen Platz mehr haben. Wenn Vorurteile, Neid und Unzufriedenheit wieder auf dem Vormarsch sind, geht die Saat des Krieges wieder auf. Deshalb begehen wir heute diesen Volkstrauertag im Bewusstsein, das die Toten uns mahnen wollen, achtsam zu sein. Wie hat es Albert Schweitzer gesagt? „Soldatengräber sind die großen Prediger des Friedens.“

Uwe Staab
Bürgermeister